LLK_img0
Jörg Wienecke_03327_Bilder der Versuchung ...  Word_6.0 Download
Textende |
26 KB diskette_schwarz

BILDER DER VERSUCHUNG ODER DIE PERVERSION DES RELIGIÖSEN
Aspekte des Geistigen bei Matthäus 4, 1-11 aus kontemplativer Sicht


 


Die Szene
Visionen entstehen oft in einer inneren Krise. Sie haben Verwirrung der Gefühle, der Gedan-ken zur Folge. Der Umgang mit jenen Bildern, die dann in einem Menschen aufsteigen, ist stets begleitet vom Zweifel, dem Zwiespalt, mitunter von der Verzweiflung. Der Mensch, der sich unter diesem Andrang aus dem Inneren behaupten muss, braucht seine ganze Kraft, um zu Klarheit und Vertrauen zu gelangen. Um zu einer bewussten Entscheidung zu kommen, müssen alle verführerischen Möglichkeiten gesehen werden, die dem „Luziferischen“ anhaf-ten. Denn die angebotene Wahrheit, die sich mit den Bildern verbindet, erscheint dem Ange-fochtenen wir eine ersehnte Rettung.
Das eigene bisherige Leben erscheint doch in der Krise als sinnlos, als verfehlt, nicht mehr lebenswert. Es ist als befände man sich in einer ausweglosen Lage, wie in einer „Wüste“. Aus dem Inneren der eigenen Seele steigt das auf, was im Grunde die Lage völlig auf den Kopf stellt, die Wirklichkeit verdreht. Eine paradoxe Situation. Das Angebotene verwirrt, weil es als Lösung erscheint, als Rettung aus dem Chaos. Es bedeutet eine Herausforderung des Be-troffenen, eine Umkehrung seiner Werte. Die „Versuchung“ besteht gerade darin, dass sein Handeln geleitet zu sein scheint von dem, was er bisher vermieden oder gescheut hat. Es ist, wie wenn Gott, auf den das ganze Vertrauen gerichtet war, sich in dieser „dunklen Nacht der Seele“ als Illusion erweisen würde. Will man nicht im Ausweglosen enden, dann scheint man sich auf das Angebotene stützen zu müssen, um dem entgehen zu können, was diese Erfah-rung erzwingt.

Die „Wüste“ erweist sich so symbolisch als Ort der Wahrheit, der Gegenwart von Dämonen und der Engel Gottes. So versteht sie der Mystiker, so nennt es die Bibel. Die Wüste zwingt den Menschen in die äußerste Anstrengung, um überleben zu können. Dem Geist des Men-schen, der sich in dieser Lage befindet, werden die entscheidenden Fragen, mit denen er sich zu beschäftigen hat, förmlich aufgezwungen.

Der Hunger der Welt
Die Welt heute leidet unter Hunger. Viele Millionen Menschen sterben jährlich am Hunger, während gleichzeitig ungeheure Summen für Rüstung und Krieg ausgegeben werden. In der religiösen Sichtweise Jesu geht es bei dem Hunger der Welt aber nicht darum, nur satt zu werden, sondern erfüllt zu sein! Er denkt an den geistigen Hunger und die unerfüllte Sehn-sucht der Seele. Doch die Realität des Verhungerns weckt die Illusion, das Angebot der Erde könnte den Menschen zu sich selbst und zu Gott bringen, ihn retten, indem es ihn satt werden ließe. Darauf gründen alle sozialen und politischen Programme. Es ist ein Verbrechen, die Schwester und den Bruder am Hunger leiden zu sehen und ihn nicht satt zu machen, sagt der Versucher.
Doch die Provokation liegt dabei in der indirekten Frage nach Gott. Muss nicht das tiefste Mitleid darin bestehen, sich all derer zu erbarmen, die existenzielle Not leiden? Wie kann man z. B. meditieren und doch nichts für die anderen tun? Wie sieht es um den Menschen aus, um seinen seelischen Zustand, wenn er satt ist? Ist nicht die westliche Welt längst satt und leidet doch mehr und mehr an den „Schäden der Seele“? Muss nicht bedacht werden, wie künftig um Rohstoffe, Öl, Wasser, Land und Absatzmärkte Kriege geführt werden? Muss nicht gesehen werden, wie groß der Schrei der vielen Notleidenden nach Erlösung ist und wie das schreckliche Geschehen in der Gegenwart förmlich nach einer neuen Weltordnung ver-langt? Wie aber kann diese gerechtere Welt durch den Zustand der Sattheit erreicht werden? Muss nicht ein Umdenken und ein ganz anderes Bewusstsein sich ausbreiten, eine neue geis-tige Dimension?

Die subtile Versuchung
Es ist in der Tat eine „teuflische Versuchung“, so zu denken und zu handeln, den eigenen Prinzipien folgend – sogar im Namen eines bestimmten Gottesbildes. Denn der Hunger des Menschen bedeutet mehr als nur einfach das Verlangen satt zu werden. Es ist jener Hunger der Seele thematisiert, der sich in der Sehnsucht nach Frieden ausdrückt, nach Verständigung, nach Ausgleich. Der menschliche Geist lebt von der Erkenntnis der Gegenwart Gottes, die über die Grenze des Todes hinausreicht, ob er es nun weiß oder nicht. Es ist in der Wüstensi-tuation des Daseins immer wieder die Erinnerung verlangt, sich an Gott zu halten und sich der zeitlichen und zugleich überzeitlichen Dimension des eigenen Wesens bewusst zu werden. Was also spiegelt der Hunger dem Betrachtenden? Wo liegt die Verantwortung für den Zu-stand der Welt begründet? Unzufriedenheit reicht nicht. Verstehen und Einsicht sind nötig.
Warum gelingt es denn nicht, dass wir Gelder nicht mehr in Rüstung investieren, sondern zur Bewältigung der Not der Welt verwenden? Es mutet pervers an, wenn gegenwärtig gewaltige Milliardensummen für eine gigantische Tötungsmaschinerie ausgegeben werden und man nicht in der Lage ist, einen vergleichsweise geringen Prozentsatz davon im Kampf gegen das Elend der Welt einzusetzen. Der Gegensatz fordert heraus, aber er hat seinen Sinn!

Die Folgen der Macht
Der Machtrieb im Menschen, sein Wille der Erste zu sein, macht die anderen zu Minderwerti-gen, zu Konkurrenten und scheinbar gefährlichen Wesen. Diese Machtgelüste treiben die gan-ze Spezies Mensch in die soziale Vernichtung, weil sie in Angst und Isolation drängen. Satt-heit schützt den Menschen vor dem leiblichen Hunger, vor der irdischen Vergänglichkeit – eine gewisse Zeit, heilt ihn aber nicht an der Seele. Die Möglichkeit der Waffen und der damit verbundenen Macht scheint den einen vor der bedrohlichen Gewalt des anderen zu schützen, vor der Gefährdung und Vernichtung, vor dem Untergang. Dem will keiner ausgesetzt sein. So manifestiert sich der Hunger in der Beantwortung der sozialen Frage durchaus. Doch wäh-rend es im Grunde auf Liebe und Verständigung ankäme, rüstet man, greift an, tötet und un-terwirft, führt Kriege im Namen Gottes und aus scheinbar logischen Gründen. Wie kann der Hunger der Seele, unter dem die ganze Menschheit leidet, so je überwunden werden? Die Not wird nur gesteigert.
Die Faszination des Bösen liegt in der Versuchung der Idee, man könnte dem Leiden zuletzt so entgehen, indem man sich auf die Angebote des Materiellen stützt; auf das also, was diese Erde bietet, ohne dabei nach Gott zu fragen.

Alternative Sicht
Jesus hat sich selten politisch geäußert. Ihm muss diese Welt in der Tat wie vom Teufel be-herrscht erschienen sein. Die Mächtigen haben in zynischer Weise die Menschenrechte der Vielen verhöhnt, sie gedemütigt, ungerecht behandelt und gefoltert. Er hatte die Macht Roms vor Augen und die militärische Gewalt des römischen Reiches. Seine Antwort war klar: „Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker unterjochen und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen missbrauchen“. (Matth. 20, 25). Nüchterner und illusionsloser kann man die „Rei-che der Welt“ nicht betrachten. Warum sollte er solche Macht anbeten? Was daran ist gött-lich? Augustinus, der Kirchenvater, hat die Regierungen der Welt als „Räuberbanden“ ange-sehen. Sie haben nichts weiter im Sinn als Raub und Mord, um ihrer eigenen Interessen wil-len. Die Größe ihrer Verbrechen stellen sie deswegen nicht mehr unter Strafe! Ähnlich sah es Luther zur Zeit der Reformation.
Was kann dazu verleiten, angesichts des Zustands der Macht und der Reiche dieser Welt, vor dem Teufel niederzufallen und ihn, den Herrn der Welt, anzubeten? Das ist die Frage Jesu. Ist doch das wirklich Teuflische daran, dass das eine Wort Gottes gegen das andere Wort Gottes gestellt wird, um die Verwirrung tief in der Seele zu verankern. Wie kann es der Wille Gottes sein, angesichts der offenkundigen Probleme, mit Waffen gegeneinander vorzugehen? Ist Gott Fundamentalist? Welche Illusion!

Die Illusion des Bösen
Stetig kehrt in der Geschichte jene naive Versuchung wieder, man könnte und müsste schließ-lich das Böse besiegen und aus der Welt schaffen. Man muss nur entschlossen genug und zur richtigen Zeit den gerechten Krieg führen, dann werde alles gut. Man übersieht die Polarität, mit der wir leben. Das Böse kann nicht überwunden werden, es sei denn im eigenen Inneren, indem man ihm keinen Wert beimisst und es unbeachtet lässt. Eigentlich ist es eine kindliche und naive Vorstellung, den Kampf um Gut und Böse zu führen. Denn diese Logik erweist sich als Irrtum, als Katastrophe, wie wir in diesen Tagen schmerzlich erleben. Ein Weltenbrand kann daraus entstehen und zumindest eine Forcierung der Rüstung in allen Staaten, denn der Angstpegel in der Welt steigt an.
Die latente religiöse teuflische Frage ist, ob man nicht dem Bösen Rechnung tragen muss, ihm Raum zubilligen muss, um dem Guten schließlich doch zum Sieg zu verhelfen? Muss man sich nicht mit dem Teufel arrangieren, um des Teufels Herr zu werden? Das scheint real zu sein. Mit diesem Konflikt hat es Jesus in dieser Situation innerer Entscheidung auch zu tun. Ein Zitat des Weisheitslehrers Gurdjieff unterstreicht das Problem: „Man kann sagen, dass es das Böse für den subjektiven Menschen überhaupt nicht gibt, sondern dass es nur verschie-dene Auffassungen vom Guten gibt. Niemand tut je absichtlich etwas im Interesse des Bösen oder um des Bösen willen. Jeder handelt immer im Interesse des Guten, wie er es versteht. Aber jeder versteht es auf eine andere Weise. Infolgedessen ertränken, schlachten und töten die Menschen einander im Interesse des Guten. Der Grund ist wieder genau der gleiche, die menschliche Unwissenheit und der tiefe Schlaf, in dem sie leben“

Moral und Zielsetzungen
Henry Kissinger, der ehemalige Außenminister der USA, hat einmal gesagt: „Die Zukunft wird nicht von der Moral gestaltet, sondern von der Macht“. Er hat auch andere Dinge ge-sagt, wie „das Öl ist viel zu kostbar als dass man es den Arabern überlassen könnte“. Wie kann man Böses überwinden, wenn die eigenen Positionen auf Macht ausgerichtet sind? Die Menschen glauben gewöhnlich, dass Gut und Böse für jeden das Gleiche sein müsste. In Wirklichkeit gibt es Gut und Böse nur für wenige Menschen. Es sind diejenigen, die ein be-stimmtes Ziel verfolgen. Was sie daran hindert, ist aus ihrer Sicht böse, was ihnen hilft, ver-stehen sie als gut. Das gilt für alle Formen menschlicher Ideologie, ob religiös oder politisch oder kulturell motiviert. Gleiches gilt analog für die Begriffe richtig und falsch. Ihren Wert für die Wahrheit des Einzelnen macht die jeweilige Zielsetzung aus. Wie will man auf diese Weise zu einem gemeinsamen Verstehen oder zu Einsicht kommen? Ein Bewusstsein, das eine verändernde Kraft beinhaltet, polarisiert nicht. Denn es ist ein Zustand, in dem der Betreffende alles in einem einzigen Augenblick weiß und in dem er erkennt, wie wenig er im Grunde weiß und wie viel Gegensätze und Widersprüche in seinem Wissen bestehen. Dann hat der Mensch die Kraft, den anderen verstehen und annehmen zu können, da er sich selbst in ihm wieder findet mit allen Nuancen seines eigenen Wesens.

Ein anderer Ansatz
Ganz anders als dieser Pragmatismus sieht die Haltung Jesu aus: Vergiss nicht Gott, der dein Leben schafft, dessen Macht anders und höher als jene Schatten menschlicher Macht. Es gibt eine Macht, die den Menschen befreien kann aus dieser Willkür des Stärkeren über den Schwächeren. Die Kategorien von Macht und Machtlosigkeit lösen nicht diese Fragen, um die es geht. Freiheit erwächst aus der Erkenntnis der Wirklichkeit Gottes und der Zugehörigkeit des Menschen zu ihm. „Fürchtet nicht diejenigen, die den Leib töten können; fürchtet viel mehr Gott, der die Macht hat, ins höllische Feuer zu verdammen“, sagte Jesus seinen Ver-trauten. Die anstehenden Probleme der Menschheit lassen sich nicht durch Gewalt lösen, son-dern nur durch Einsicht und Erkenntnis des Wesens Gottes, das sich im Ausgleich und in der liebenden Verantwortung füreinander mitteilt. Daran kommt man auf Dauer nicht vorbei.

Vertrauen oder Realpolitik
Bleibt die Frage des Vertrauens. Muss man nicht auf wirtschaftliche Macht und militärisches Potenzial setzen, wenn es um die notwendige Veränderung in der Welt geht? Im Alten Testa-ment wird eine Geschichte aus der Zeit der Belagerung von Jerusalem durch die Assyrer be-richtet: Da werden dem König Hiskia von dem assyrischen General Sanherib vor der mögli-chen Schlacht um Jerusalem großmäulig vorher noch 2000 Rosse angeboten. Aber selbst das würde ihm und seinem Gottvertrauen nichts nützen, da er nicht einmal die dafür nötigen Rei-ter hätte, sagt er ihm. Wie kann er sich also auf einen Gott verlassen, der doch dem assyri-schen Großkönig bisher in allen Schlachten nicht widerstanden hätte? Sein Gottvertrauen sei Illusion und Selbsttäuschung. Hiskia legt Gott im Tempel das Schreiben auf den Altar und betet, indem er sagt, dass diese Sache nun nicht mehr ihn, den König, sondern Gott selbst an-gehe. Die Antwort Gottes kommt plötzlich und über Nacht, wie die Bibel berichtet. Sie be-steht wohl in einer Seuche, in der zehntausend Assyrer vom „Engel der Herrn geschlagen“ werden und ihr zum Opfer fallen. Die Belagerung Jerusalems wird deswegen abgebrochen. Der assyrische Großkönig wird wenig später von seinen eigenen Söhnen ermordet. Das Ver-trauen Hiskias auf Gott war nicht umsonst.

Es kann das Teuflische in jeder Religion sein, dass man sich auf Gott beruft, aber in Wahrheit längst seinen eigenen Vorstellungen folgt und sich selbst unwissend oder töricht an die Stelle Gottes setzt. Man kann sich mit frommen Ideen identifizieren und dabei doch unmenschlich handeln, ohne zu bemerken, wie sich eine Katastrophe daraus entwickelt. Die Welt wird sich unter dem Eindruck dessen, was gegenwärtig geschieht, völlig verändern.

Das Bodenlose auf dem Seelengrund
Die Versuchungsgeschichte Jesu lehrt, wie gefährlich es ist, wenn der Mensch sich mit jenen Triebkräften auf dem Grund seiner Seele identifiziert, die ihn zu reinem Wunschdenken brin-gen. Nur der Blick in die Abgründe der eigenen Seele befreit aus dem Zwang, anderen Gewalt anzutun. Es bleibt dem Menschen, um es mit einem Bild zu beschreiben, nur das übrig, was kleine Kinder mitunter praktizieren, wenn man sie dazu ermuntert: Sie springen, trotz ihrer Angst, von einer Höhe direkt in die Arme des Vaters oder der Mutter, die sie auffangen, ohne sie dabei aus den Augen zu lassen, weil sie ihnen ganz und gar vertrauen. So auch wir: Wir fallen nur dann ins Bodenlose, wenn wir meinen, die anstehenden Probleme abseits von Liebe und Gottvertrauen nach eigenen Normen selbst lösen zu können.
Nichts ist gefährlicher als jene Illusion der Macht, die sich auf die Grenzen menschlicher Möglichkeiten stützt. Es gibt kein größeres Verantwortungsbewusstsein als jene Haltung, die dem Missbrauch der Macht durch den Menschen, Gottvertrauen entgegensetzt, ohne in Ge-walt und Hass zu fallen. Es sollte nicht übersehen werden, dass es die Engel sind, die den Menschen mitunter in die Wüste treiben. Manchmal gilt dies der ganzen Menschheit, damit zur Erkenntnis gebracht wird, was unbedingt bewusst werden soll.

J.W. 27.03.03



nach oben  ^