Jörg Wienecke_erh41_Aufrichtigkeit und Liebe_4 Seiten |
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Aufrichtigkeit und Liebe
Jesus
sprach: Liebe deinen Bruder wie deine Seele. Hege ihn wie deinen Augapfel.
Es ist nicht die Absicht bei diesem Beispiel aus dem Thomasevangelium den Satz zu interpretieren. Das würde auf eine „Erklärung“ hinauslaufen. „Klärung“ aber soll zu einer gewissen „Klarheit“ führen. Das ist ein zutiefst individueller Vorgang. Mich hat die schmerzliche Geschichte mit einem mir eng verbundenen Menschen zu der vorliegenden Betrachtung veranlaßt, um so das seelisch aufzuarbeiten, was mir übrig geblieben war. Insofern ist dies das Resultat aus der Beschäftigung mit einem Satz aus dem Thomasevangelium. Eine Interpretation des Textes hätte diesen Zugang verschlossen und nichts bewegt. Bewegend ist nur der Augenblick, in dem man sich so oder so befindet.
Der Wind wehte heftig über die Fläche, durchfuhr
mich kalt, riß mir fast die Mütze vom Kopfe und teilte mit seinen
starken Böen den Wolkenhimmel über mir in zwei Hälften auf. Auf
der einen Seite stand drohend eine finstere Wolkenwand, regenschwer, die gegen
den Wind nicht ankam und die den Wald in unmittelbarer Nähe in ein tiefes
Dunkel hüllte. Scharf abgegrenzt davon leuchtete auf der anderen Seite
ein blauer Himmel, völlig blankgefegt, überzogen nur ab und zu von
kleinen hellen Wolkenfetzen, die sich im Sturm nicht lang halten konnten. Die
Sonne schien ungehemmt unter die schwarze Wolkendecke und tauchte die darunter
liegende Landschaft in jenes bezaubernde, helle, warme Licht, das nur in solchen
Momenten entsteht, in denen reine Luft die Sonnenstrahlen nicht mehr filtert.
Wie verwandelt standen die angestrahlten Bäume in beinahe übernatürlichen
Farben da, sehr im Kontrast zu der düsteren Schwärze des Waldes im
Schatten auf der anderen Seite. Es war als gäben sie auf ihre Weise dem
Wind und der Sonne eine Antwort auf ihr gemeinsames Wirken. Hingebungsvoll folgte
ich dem faszinierenden Schauspiel, das sich in farblich wechselnden Nuancen
vor mir ausbreitete.
Er war ein sehr erfolgreicher Mann im Leben, und ich war, wie
viele, die ihn kannten, dem unwiderstehlichen Charme verfallen, den er besaß.
Er verfügte über ein sehr großes Vermögen, das er sich
erworben hatte, und viel Macht hatte er auch. Sie beruhte vor allem in seiner
ungewöhnlichen Ausstrahlung. Den Gipfel des Glücks schien er erreicht
zu haben und kam dabei innerlich doch nicht zur Ruhe. Stets wollte er unbedingt
der Beste sein, allen überlegen, vielleicht einzig in seiner exotischen
Art, wie er sich selbst bezeichnete. Ihm schien das Sonnenlicht im Leben ganz
und gar zu leuchten; und doch hingen gleichsam schwere dunkle Wolken über
seinem Dasein. Er litt an diesem Kontrast in seinem Wesen, obwohl er in seiner
großen Willenskraft und festen Entschlossenheit nie einen Zweifel daran
aufkommen ließ, daß das Leben ein fortgesetzter Kampf sei, wie er
meinte, und daß er, wie jeder andere auch, auf seine Weise die Stürme
zu bestehen hätte, die nun einmal über uns kämen. Da er wußte,
daß er wirklich einer der Besten war, war er von sich sehr überzeugt
und rechnete sich jenen Elitemenschen zu, die Richtung und Ziele der Menschheit
zu bestimmen hätten, wie er meinte. So erlebte er sich fortgesetzt in seiner
Willenskraft herausgefordert. Der Preis dafür war ein hohes Maß an
Einsamkeit. Aber er war von einem redlichen Bemühen um Verbesserung der
allgemeinen Zustände geleitet, soweit sie in seinem Machtbereich lagen,
allerdings gemäß seiner eigenen Vorstellungen.
Grundlage seiner Weltanschauung war der Eigenwille. Er schrieb
seine Erfolge fast ausschließlich seinem Willen und seinem Können
zu. Seine Ausdrucksweise war klar und bestimmt. Widerspruch gab es kaum, da
seine Partner und Mitarbeiter seine Überlegenheit respektierten und ihm
höchstens ab und zu dezente Hinweise gaben. Indes wollten seine Disziplin
und sein Blick einfach nicht zu dem passen, was er in Wirklichkeit in seinem
Wesen war. Seine Haltung drückte Konsequenz und Unnachgiebigkeit aus, wenn
er seine Ziele verfolgte und seine Verhandlungspartner mit seinem Charme in
seinen Bann zog oder einfach in die Enge trieb. Er war immer mit lächelndem
Gesicht zum Gespräch bereit, und dennoch war seine Willenskraft stets wach.
Er bestimmte den Kampf, den Zeitpunkt und setzte dafür die Regeln, entsprechend
seiner Durchsetzungskraft. Doch er entkam diesem Willen und diesem Reglement
auf Dauer selbst nicht mehr. So wirkte er oft prinzipiell, streng und unduldsam.
Da er ein großer Ästhet war, verband er Schönheit
und Stil mit seinen Vorsätzen und ließ keine Gelegenheit aus, sich
in dieser Hinsicht seiner Neigung nach zu vervollkommnen. Er hatte in jeder
Weise persönlich und wirtschaftlich die nötigen Mittel dazu und setzte
sie ein. Dennoch hinderte ihn die tief in ihm sitzende Angst und das Empfinden
ständiger Bedrohung durch Umstände und Kontrahenten daran, die ihn
umgebende Schönheit still und lustvoll zu genießen.
Sein Leben wurde so dem Zustand vergleichbar, wie er sich an
diesem stürmischen Wintermorgen vor mir abspielte. Dunkelheit und Licht,
bestimmt von der Kraft des Windes, über die wir nicht zu gebieten vermögen,
werden zur Parabel, zum Gleichnis für sein Leben. Ist das Leben aber wirklich
nur Kampf und Rivalität, oder ist beides nur die Folge unserer Introjekte
und Überzeugungen? Gibt es nicht einen Ausgleich der Kräfte, selbst
in ihrer äußersten Polarität, der uns von allem Zwang zum Kämpfen
befreit?
Lauterkeit des Herzens und Aufrichtigkeit in den verschiedensten
Lebensphasen sind in keinem Falle einfache Dinge, oft sogar ein großes
Risiko. Die Welt ist auf Rivalität aufgebaut, besteht im Kampf ums Überleben,
in dem der eine zum Gegner des anderen wird. Die Kinder unserer Sphäre
lernen leider schon sehr frühzeitig, daß sie sich den anderen gegenüber
behaupten und durchsetzen müssen. Auf diese Weise werden sämtliche
Fähigkeiten und Gaben, über die ein Mensch verfügt, diesem einen
Zweck untergeordnet. Uns beiden, die wir sehr befreundet waren, ging es nicht
anders.
Als höchstes Glück der Erde gelten in unserer Weltgesellschaft
Erfolg und der Gewinn von Geld und Macht. Diesem Streben dient am Ende in der
Regel die ganze Willenskraft, die einem zu Gebote steht. Was aber wird aus denen,
die in diesem Kampfe zwangsläufig unterliegen? Es gibt neben den Starken
und Mächtigen die Schwachen und Ohnmächtigen, die auch zu uns gehören
und für die wir verantwortlich sind. Es gibt die Menschen, die von Beginn
ihres Lebens an im Nachteil sind, weil sie in eine Lebenslage hineingeboren
wurden, die ihnen keine Möglichkeit zur Entfaltung bietet und in der sie
völlig auf andere Menschen und deren Hilfe angewiesen sind. Was geschieht
mit ihnen im Kampfe der Besten um den Platz an der Sonne?
Was eigentlich nährt unseren Eigenwillen so, daß
wir unsere Mitmenschen als Gegner und Feinde erleben und was stützt diese
extreme Überzeugung? Wäre die Welt nicht schöner, wenn egoistische
Rücksichtslosigkeit und bedingungsloses Gewinnstreben - jener fatale und
tödlich wirkende Religionsersatz eines entwurzelten modernen Zeitgeistes
- zu Gunsten kooperativer Lebensformen endlich aufgegeben würde?
Der Eigenwille scheint Charakterstärke und Aufrichtigkeit
zu bescheinigen. Aber im Grunde kann die auf das Subjektive eingeschränkte
Willenskraft nicht zur Selbsterkenntnis und zur Erfahrung der Wesensnatur führen.
Selbsterkenntnis bleibt dem Ego versagt. Nicht die Anspannung der Willenskraft
befreit aus den Zwängen des fortgesetzten Kampfes, sondern die Aufmerksamkeit
und die Aufgeschlossenheit für die andauernden Zustände und Reaktionen,
denen das Ich angesichts der ständigen Reize und Gelüste ausgesetzt
ist. Sprunghaft und launisch muß ein Mensch deswegen gar nicht sein. Aber
der Eigenwille und das damit verbundene unbewußte Triebsystem riegeln
das Erkennen dessen, was ist, geradezu ab. Darum kommen wir nicht zu uns selbst,
wenn der Eigenwille die Stimme des Selbst in uns überlagert und bereits
Vorurteile und Vorentscheidungen unter diesem Blickwinkel trifft, noch ehe das
wahre Sein vernehmbar und erkennbar wird. Der Eigenwille ist die Grundlage des
Begehrens. Darum ist er zugleich das entscheidende Hindernis, um sich seiner
Begehrlichkeit und ihrer Folgen bewußt werden zu können. Wie will
man sich darüber klar werden, wie es um einen bestellt ist, wenn der Wille
bereits zum obersten Prinzip erklärt ist und den Kampf eröffnet, noch
ehe die Möglichkeit einer friedlichen Alternative in Betracht gezogen wird?
Der Eigenwille, der vom unbewußten Triebleben gesteuert
ist, kann nie in die Stille führen, niemals passiv sein. Es wäre gegen
seine Natur gerichtet. Wille wäre nicht Wille, wenn er kein Ziel und keine
Absicht verfolgte. Er weiß keine Alternative als sich durchzusetzen. Wille
ist immer zielgerichtet. Genau dieses Wesen des Eigenwillens macht unfrei, verschließt
das Sein, gestaltet Leben zum Kampf ums Überleben. Der Egoismus regiert.
Man kann nur in der Stille gewahr werden, im wachen Schweigen, woher gleichsam
der Wind kommt und wohin er geht [1]- ohne daß man ihm gebieten könnte.
In Wahrheit sind es unsere Begierden und unbewußten Antriebe,
die uns zu Sklaven der Lüste machen und uns unreif und abhängig sein
lassen. Da sie bei allen Menschen unterschiedlich ausgeprägt sind und verschiedene
Gesichter haben, liegen sie in ständigem Kampf gegeneinander. Sie lassen
alle Formen zwischenmenschlicher Beziehungen pervertieren und zum Kampfplatz
mißraten. Zuletzt fesseln sie uns an die scheinbar notwendige Verpflichtung
uns unablässig zu verteidigen, um am Ende selbst nicht untergehen zu müssen.
Welch eine Illusion! Wir grenzen unser Ich gegen die anderen
ab. Dazu dient der Eigenwille. Man kann aber nicht in stetigem Aktionismus dessen
gewahr werden, was wirklich ist, wie es ist. Dazu gehören Gelassenheit
und Passivität, eine Ruhe jenseits aller Willensprinzipien. Selbst der
Wille zur Erkenntnis der Einheit des Seins erfordert das „Maßgebende“,
das scheinbar unausweichlich Normative des dazugehörigen Systems des Überlegenen
im Verhältnis zum Unfertigen, Unvollendeten und läßt die Wirklichkeit
als etwas erscheinen, das immer vor uns liegt, das es anzustreben gilt – niemals
als absolute Gegenwart. Dazu scheint der Wille nützlich zu sein.
In Wahrheit aber bestimmt diese Systematik das Endergebnis
bereits im Voraus und macht abhängig. Denn es erfordert Einordnung in die
dafür geltenden Normen, wenn man auf diese Weise bestimmte Ziele anstrebt.
Anpassung und Unterordnung jedoch lösen Angst aus. Die Angst ihrerseits
begrenzt wahre Einsicht und bläht das ICH auf, indem sie die Erfolge des
Eigenwillens und des damit verbundenen Systems bestätigt. Ein aufgeblähtes
Ich jedoch verliert sich in Illusionen und ist zugleich die Grundlage für
fortgesetztes Leid und andauernden Kampf in der Welt.
Ein Mensch kann auf diese Weise in seinen Bestrebungen dennoch
sehr erfolgreich sein. Er kann es zu wahrer Meisterschaft in seinem Metier bringen
und zu gewisser seelischer Größe. Lauterkeit und Aufrichtigkeit mögen
ihn auszeichnen, aber er kann nicht wirklich lieben. Denn Liebe würde die
Angst aufheben und den Kampf um letzte Erfolge und hehre Ziele überflüssig
machen. Ein erfolgreicher Mensch kann zum Maßstab für alle werden,
in seiner Person zum Bild der gelebten Idee, zum Beispiel menschlicher Vollendung,
vermeintlich selbst zum Gott werden, und kommt doch so aus der Zwiespältigkeit
seines Wesens nie heraus. Denn je stärker ihn die Identifizierung mit seinem
Eigenwillen bindet, desto stärker wird er immun gegen den Schmerz innerer
Zerrissenheit.
Das Tragische daran ist, daß er sich nie von dem Feindbild
lösen kann, das er in sich trägt. Da er den Gegner nicht in sich selbst
spürt, sucht er ihn im Äußeren und bekämpft ihn dort -
vergebens. Das löst unbewußt den Drang der Menschen aus, sich mit
etwas eins fühlen zu wollen, das als erstrebenswertes Ziel vor ihnen liegt,
statt einfach das zu sein, was sie sind. Es ist das aufgeblähte Ich, das
der Einfachheit und Schlichtheit des Herzens widerspricht und manchmal selbst
in Formen der Erleuchtung noch Eigenwille und Selbstgefälligkeit repräsentiert.
Da nützt es selbst dann nichts, wenn man sich in Lumpen kleidet und in
Sack und Asche Buße tut. Ein solcher Mensch bleibt in innerer Zerrissenheit
gefangen, auch wenn er glaubt anders zu sein. Es regiert ihn sein Eigenwille
und manchmal zusätzlich Dünkel und Eitelkeit. Der Wille, etwas zu
gelten und zu sein, steht zur Liebe und Einfachheit des Herzens jedoch in krassem
Gegensatz.
Es ist die unbewußte, tiefsitzende Angst, die uns das
Dasein als Notwendigkeit ewigen Kampfes erscheinen läßt. Sie aber
kann niemals durch Willenskraft überwunden werden, sondern nur in der Erkenntnis
dessen, was ist.
Es gibt bei dem Meister Eckhart den Begriff der „Einförmigkeit
mit Gott“. Damit ist gemeint, den Eigenwillen aufzugeben, indem man sich dem
höheren Willen Gottes anschließt und das Leben so nimmt, daß
alles, was immer geschieht, Ausdruck des göttlichen Willens ist. Dann sind
die Ziele und das versklavende Begehren in Schranken gewiesen. Es kann in diesem
Moment zugelassen werden, was ist, und das Leben kann sich uneingeschränkt
vollziehen. Liebe unter den Menschen gewinnt in dieser „Einförmigkeit mit
Gott“ Raum. Dann sind unsere Gedanken nicht von der Hoffnung auf Macht und dem
Streben nach Erfolg bestimmt. Die Angst vor Mißerfolg bindet uns fortan
nicht mehr an den Ort tödlichen Kampfes, an dem die Leidenschaften und
Triebe Menschen zerstören. Frieden und Stille kehren ein und der andere
Mensch neben mir kann mir zum Bruder oder zur Schwester werden. Der Blick für
die Wirklichkeit verändert sich.
Über mir verschob der Wind am Himmel die Wolken. Ich dachte
daran, daß im Grunde jeder Mensch zwischen Licht und Dunkelheit seines
Wesens sein Profil gewinnt. Warum sollte ich am anderen bekämpfen, was
mir selbst anhaftet? Der starke Wind riß mit sich fort, was ihm nicht
widerstehen konnte. Alles um mich herum war einer raschen Veränderung ausgesetzt.
Was eben noch hell beleuchtet war, tauchte im nächsten Moment in tiefen
Schatten - ein Sinnbild für unser Leben. Ich zog meine Mütze fester
über den Kopf, sah die schimmernden Wasserpfützen auf meinem Weg,
atmete die frische Luft tief ein und machte mich auf den Heimweg. Was bleibt
nun übrig von allen Erfolgen, von allem Geld und Gut, wenn der Mensch nicht
mehr ist und jeder zuletzt fortgerissen wird, wie sehr er sich auch ans Dasein
anklammert und sich anstrengt?
Gedanken über den Tod beschäftigten mich und die
Frage nach dem Wesen der Liebe zu den anderen, die mit mir im Leben unterwegs
sind. Sind wir nicht alle Teil dieses Geschehens, dieses Wechsels zwischen Licht
und Dunkelheit? Am Ende bestehen wir wohl aus dem, was wir sind, nicht aus dem,
was wir meinen, sein zu sollen. Der Eigenwille hat dafür wenig Gewicht.
Das scheint mir der tiefere Sinn der Liebe zum Mitmenschen zu sein, nämlich
über das Ich zum Du und damit zur Einheit allen Seins und zu sich selbst
finden zu können. In Wahrheit sind wir nicht voneinander getrennt, und
Zeit und Raum sind nur Konstrukte unserer Sinne. Doch das ist ein anderes Thema.
Bleibend ist allein die Liebe.
Gedankenverloren folgte ich unserem Hund, der sich selbständig
auf den Heimweg gemacht hatte. Ich mußte mich sputen, um ihn einzuholen,
denn er ist schwerhörig und dem Straßenverkehr nicht mehr gewachsen.
Aber so ist es eben. Auch das ist das Leben.
J.W.